Grün ist die Hoffnung
Ein Beitrag von Christoph Busch
Ende 2017 – am kleinen grünen Kiosk auf dem Mittelbahnsteig zwischen den Gleisen der Hamburger U-Bahnstation Emilienstraße hängt ein Schild, dass er zu mieten ist. Ich bin Drehbuchautor und entschließe mich spontan, ihn zu mieten. Ich will dort schreiben und nebenbei neue Geschichten sammeln. Ins Fenster hänge ich ein Plakat mit einem großen Ohr: „Ich höre Ihnen zu. Jetzt gleich oder ein anderes Mal.“
Das Zuhören, als Nebentätigkeit gedacht, trifft auf überraschend große Begeisterung: „Es hört einem ja heute keiner mehr zu!“ Und auch noch „kostenlos“, wie ich nach wiederholten Fragen auf einem Schild versichere. Ständig kommen die unterschiedlichsten Menschen, um mir etwas zu erzählen. Ich komme nicht zum Schreiben und nach wenigen Tage lasse ich meinen Laptop zuhause und höre nur noch zu.
Es sind glückliche und bunte Geschichten, aber auch traurige. Wegen des einfachen Zugangs zum Kiosk inmitten des alltäglichen Bahnbetriebs und der so möglichen Anonymität wurden mir oft Erlebnisse anvertraut, die Menschen sich sonst nicht zu erzählen trauen: Aus Sorge, dass ihre Ehrlichkeit irgendwann gegen sie verwendet werden könnte, oder einfach, weil sie, wie wir alle, Unglück lieber für sich behalten.
Der ursprüngliche Gedanke, Geschichten zu sammeln und zu verwerten, tritt immer mehr in den Hintergrund. Das besondere Zuhören an diesem ungewöhnlichen Ort verselbständigte sich. Nicht, weil ich ein guter Mensch sein will, sondern weil die geschenkten Blicke in das Leben anderer den Blick auf mein eigenes Leben und meine Gefühle erweitern. Außerdem tu es einfach gut, wenn jemand den Kiosk ein wenig glücklicher verlässt.
Zwei, drei, viele Ohren
Trotzdem ist Zuhören natürlich anstrengend. Es braucht Konzentration, Eingehen auf sehr unter-schiedlichen Menschen, mit Gefühl. Manchmal tut es auch gut, mit Anderen darüber zu reden. Deshalb suche ich ab Sommer 2018 über Freundinnen und Freunde Menschen, die gemeinsam mit mir ehrenamtlich zuhören.
Im Laufe der Zeit ist eine Gruppe von Zuhörerinnen und Zuhörern verschiedenen Alters und mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen zusammengewachsen: von der jungen Musikerin bis zum pensionierten Vertrauenslehrer. Wenn sie das Zuhören nicht mehr mit Änderungen in ihrem Leben vereinbaren können, wandern die „Ohren“, in eine freundschaftliche Umlaufbahn.
Inzwischen kommen auch von sich aus immer neue Menschen zu uns, die das Zuhören als Bereicherung sehen und suchen. So begegnen sich nicht nur im Kiosk, sondern auch unter uns Zuhörerinnen und Zuhörern ganz unterschiedlichen Blicke auf das Leben, verbunden durch unsere gemeinsamen Kioskerfahrungen, deren Austausch während unserer Treffen uns Staunen, Freude und Ermutigung bringt.
Immer wieder melden sich auch Menschen, weil sie an ihrem Ort etwas Ähnliches aufbauen möchten: Es gibt den norddeutschen Pastor, der sonntäglich auf einem Stuhl vor der Kirchhofmauer zuhört, oder den städtischen Zuhör-Kiosk am Busbahnhof in Neustadt (Schleswig-Holstein), Es gibt „Zu-hör-Kioske“ in Berlin, München, Basel und auch anderswo. Zuhören kann ansteckend sein.
Von Anfang an haben Menschen den Zuhör-Kiosk mit Spenden unterstützt. Um die Finanzierung verlässlicher zu gestalten, haben wir Ende 2019 einen gemeinnützigen Verein gegründet, der im Januar 2020 steuerlich als „mildtätig“ anerkannt wurde und deshalb Zuwendungsbescheinigungen ausstellen kann.
So hat der Zuhör-Kiosk, der so nie geplant war, immer wieder neue Ringe angesetzt und ist inzwischen vielen Menschen als Ort vertraut, an dem Gutes wahr werden kann. Passanten grüßen lächelnd, Fahrgäste winken aus den Zügen, Blicke begegnen sich. Der grüne Kiosk in der sonst wenig frohen Umgebung ein erfreulicher Anblick – wie ein Baum in einer kargen Landschaft. Er wirkt allein schon dadurch, dass es ihn gibt. Auch auf uns: So viel Lob ist selten.